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Was „Berufung“ wirklich meint und warum Du das nicht brauchst

Die Jagd nach der einen großen Berufung, die unserem Leben endlich den Sinn verleiht, nach dem wir uns so sehr sehnen, ist die wahrscheinlich größte Illusion unserer Zeit.

Versteh‘ mich nicht falsch. Ich habe nichts gegen Sinn im Leben – im Gegenteil. Würden wir keinerlei Sinn sehen in den Dingen, die wir täglich tun, den Menschen, die uns umgeben und den Zielen, die wir uns stecken, dann könnten wir uns diese ganze Leberei doch eigentlich sparen. Und doch sind wir hier mit all unseren Träumen, Zielen, Interessen und Beziehungen.

Aber – und ich weiß, mindestens die Hälfte der Persönlichkeitsentwicklungs-Branche wird mich jetzt am liebsten knebeln wollen – ich halte nicht viel von dem Konzept „Berufung“. Bevor du mich jetzt mit faulen Tomaten bewirfst, lass es mich kurz erklären.

Woher der Begriff „Berufung“ eigentlich kommt

Das Konzept der Berufung kommt ursprünglich aus der Religion und kommt auch im Christentum vor. Eine Be-Rufung ist demnach ein Ruf, von Gott etwa, der einen Menschen ereilt. Die meisten „Berufenen“ stifteten dann Religionen, wurden Propheten oder Priester. Der Unterschied zur Berufung, nach der wir heutzutage zu trachten pflegen, ist, dass diese göttlichen Berufungen in der Regel wenig mit Selbstverwirklichung zu tun hatten. Vielen „Berufenen“ erging es in ihrem Leben gar nicht mal so gut. Wenn du mir nicht glaubst, gönn‘ dir ruhig den Spaß und lies dir die Geschichten (und vor allem deren Ende) diverser katholischer Heiliger durch. Dagegen ist „Saw 1 bis 6“ die reinste Comedy-Show. Außerdem ist in dieser ursprünglichen Berufungs-Lesart auch nicht jeder Mensch zu irgendetwas Besonderem oder Großen berufen. Zwar sei die Berufung „zur Liebe und zum Leben“ im Herzen jedes Menschen verankert, heißt es. Aber die herausragenden Berufungs-Sprünge machen eben doch nur wenige Heilige.

Was wir aus dem Konzept-Berufung gemacht haben

Wenn wir heute von „Berufung“ sprechen, dann meinen wir damit ein Potenzial, das verborgen wie eine Perle in der Auster in jedem von uns schlummert und nur darauf wartet, entdeckt und verwirklicht zu werden. Wir sind einzigartig, heißt es, wir sind besonders, wir sind ganz und gar außergewöhnlich und zu Großem berufen. Pech natürlich, wenn wir diese Perle nie frei legen, es nie schaffen, uns zu verwirklichen und die Welt mit unserer großen Vision zu verbessern (oder zu retten, sind wir doch mal ehrlich). Berufung ist allmählich zu einer Art Lebenssinn und Lebenszweck geworden, ohne den unser Leben scheinbar keinen Sinn macht. Zumindest haben wir die Aufgabe, wegen der uns das Universum hier zur Erde gesandt hat wie Superman, dann nicht erfüllt. „Thema verfehlt“ bedeutete seinerzeit einmal eine Sechs in der Klassenarbeit, also „ungenügend“, also „nicht genug“. Und so fühlt es sich auch an, wenn wir nach der Berufung trachten: Als wäre unser Leben ohne sie einfach nicht genug. Als wären wir nicht genug.

Das große Geschäft mit der Berufung

Berufung ist also der heiße Scheiß unserer Zeit. Sie ist das Coolste, Beste und Erfüllendste, das wir aus unserem Leben machen können, also will sie jeder finden, jeder haben. In der Werbung nennt man das „künstlich erzeugte Nachfrage“. Es ist das gleiche Prinzip, das große Burgerketten anwenden, wenn sie Dir im Fernsehen den frisch gegrillten Burger zeigen, von dem goldener Käse schmilzt, bevor jemand genüsslich hineinbeißt. Du hast vielleicht gar keinen Hunger und wenn, dann würde es auch ein Teller Nudeln tun – aber Du willst diesen Burger und wenn es das letzte ist, was du isst. Du willst diese neuen, überteuerten Markenklamotten, weil Dir die Marke weismacht, dass Du dann zu den coolsten Kids in Town gehörst. Du willst dieses teure Auto, weil Dir vorgegaukelt wird, dass Du dann zu den Erfolgreichen zählst, wenn Du die Karre fährst. Kannst Du ohne Burger, teure Klamotten und Autos gut leben? Klar doch. Aber Du willst es nicht. Im schlimmsten Fall kommt Dir Dein Leben sogar leer und sinnlos vor, wenn Du diesen Kram nicht hast. Und da wir „Berufung“ auch gerne mal mit „Sinn des Lebens“ gleichsetzen, ist die Misere hier noch viel größer. Denn wer würde keinen Sinn im Leben wollen? Dann kann man es ja auch gleich lassen. Und genau deswegen lässt Du Unmengen an Geld bei Gurus, Coaches und in der Selbsthilfe-Abteilung im Buchhandel liegen, die Dir versprechen, mit dieser Methode, mit diesem Coaching, mit diesem Buch findest Du (in X Schritten) endlich Deine Berufung und lebst glücklich bis ans Ende Deiner Tage.

Die Sache mit dem Traumleben

Ich will Dir nicht sagen, dass Du ein sinnloses Leben leben sollst. Im Gegenteil. Doch die Berufungs-Industrie tut so, als wüsste sie etwas über Dich, das sie nicht wissen kann. Sie tut so als würde Sie den Weg zu DEINER Berufung besser kennen als Du selbst. Zu Deiner Berufung, die längst da ist, nur bist Du zu dumm, zu ignorant, zu unerfahren (wobei viele Coaches auch nicht gerade viel Lebenserfahrung auf dem Buckel haben), kurz: zu blind, um sie zu sehen. Die Wegstrecke ist dabei schon klar:

  1. Berufung finden (mit dem „Finde-Deine-Berufung-Workshop/-Online-Kurs/-Coaching)
  2. Einen Plan erstellen, wie Du sie in Dein Leben holst und verwirklichen kannst (Hier bietet sich erneut ein Coaching an)
  3. Dein „Business“ aufbauen (in aller Regel läuft es auf ein Business hinaus, denn auch hier gibt es super Coaching-Angebote)/ Dein „Traumleben“ leben/ Deinem „Herzensweg“ folgen.

Auch wenn Du das alles irgendwie geschafft hast, gibts natürlich trotzdem noch Optimierungsbedarf. Du weißt ja schließlich nie, ob da nicht noch ein bisschen mehr geht. Und: Bist Du wirklich schon „die beste Version“ deinerselbst? (Bestimmt nicht, Schätzchen.) Wäre doch schade, wenn Du und Dein Leben unter euren Möglichkeiten bleiben würdet. Du wärst so viel glücklicher, wenn Du doch nur noch ein bisschen besser wärst als jetzt. Und noch ein bisschen. Und noch eins.

Berufung wird nicht gefunden, sondern geschaffen

„Das Leben ist eine Gelegenheit, um Sinn zu kreieren“, sagte der zugegebenermaßen umstrittene Osho. Aber ich bin ziemlich überzeugt, dass es so ist. Wir glauben so gerne an den Topf voll Gold am Ende des Regenbogens, den vergrabenen Schatz, den Lottogewinn. Wir wollen etwas finden, das uns glücklich macht, ohne ein Risiko dafür einzugehen. Die „Berufung“, die man Dir verkaufen will, ist der Topf voll Gold, den man Dir in den Schoß legt. Das Universum zeigt Dir dann auch, was Du damit tun sollst (oder halt ein Coach, der mit dem Universum besser kommunizieren kann als Du, klar). Du brauchst eigentlich gar nicht viel selber zu machen, aber Dein Leben wird trotzdem supi. Verspricht man Dir.

Aber was, wenn Du die Berufung selber machen könntest, sie quasi aus dem Nichts erschaffen könntest? Was wenn Du das jederzeit tun könntest? Und auch jederzeit alles wieder verwerfen und neu anfangen dürftest? Was, wenn es den großen Masterplan nicht gibt und was, wenn das auch gar nicht wichtig ist?

Was, wenn Berufung nicht der Anfang aller Dinge wäre, das Nadelöhr, durch das Du zuerst hindurch musst, bevor Du ein erfülltes Leben führen kannst?

Der Weg der Kolibris

Die Autorin Elizabeth Gilbert („Eat Pray Love“, kennste), hat diesen „anderen Weg“ als „Flight of the Hummingbird“, also Flug des Kolibris, genannt. Es ist der Weg der Neugier, der Intuition, der Freude. Wege können entstehen, während man sie geht. Berufung kann entstehen, während Du das tust, woran Du Freude hast, einfach nur, weil es Dir Freude macht. Einer von Gilberts Romanen entstand nur deswegen, weil sie plötzlich ein Interesse an Pflanzen entwickelte und sich zu fragen begann, wo sie wohl herkamen. Das führte zu intensiveren Nachforschungen, einem umfangreichen Wissen über Pflanzen und ihre Wirkungen und unter anderem zu dem erfolgreichen Roman „Das Wesen der Dinge und der Liebe“. All das nur, weil Gilbert neugierig darauf war, was mit den Pflanzen in ihrem Garten los war. Das Interesse hätte wieder verpuffen können, natürlich. Da ist auch nichts dabei. Dann richtet sich die Neugier eben wieder in eine andere Richtung, in die man gehen kann.

Wir geben unserem Leben selbst Sinn, durch das, womit wir es füllen. Es steht nirgends geschrieben, dass es „die Berufung“ sein muss. Ein Leben kann reich, erfüllt und glücklich sein, ohne es einem riesigen weltrettenden Tun zu verschreiben. Ein Leben kann voller Lachen, Spaß, Familie, Freunden, Liebe, Sport, Kunst, Reisen, Faulenzen, Philosophieren, Feiern, Lernen, An-Autos-Schrauben oder Briefmarkensammeln sein und ein total gutes Leben sein. Ein Leben kann trotz Krankheit, Fehlschlägen, finanziellen Engpässen, Arbeitslosigkeit und Liebeskummer unter dem Strich ein gutes Leben sein. Das ultimative dauerhafte Glück gibt es nicht und wenn wir ausgerechnet das zu unserem „Traumleben“ deklarieren, machen wir uns – ziemlich sicher – auf Dauer unglücklich.

Das Leben ist das, was passiert, während Du das Ideal der großen Berufung jagst.

Du bist gut genug, schon jetzt.

„Was wirklich zählt, ist ein Leben zu leben, das stärker von Neugier angetrieben ist, als von Angst.“ (Liz Gilbert)

Geh‘ ruhig mutig Deiner eigenen Nase nach. Denn dort entlang führt auch ein Weg.

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